Die Künste fungieren in Zeiten globaler Ohnmacht nicht als Mittel des bürgerlichen Zeitvertreibs oder als kulturelle Ablenkung, sondern werden entschieden in den Verlauf der Geschehnisse eingebunden. Von ihnen wird erwartet, die Lage politisch, emotional und kulturell zu verarbeiten, den Irrweg in die Krise zu analysieren sowie utopische Szenarien ¹ für die Zeit danach zu entwerfen.
Wer jedoch befindet sich in der zentralen Position, Autor_in der Zukunft zu sein? Wodurch erlangt man die Fähigkeit, Zusammenleben und Gesellschaft radikal neu zu denken und diese Vorschläge einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln? Und wie können auch jene daran teilnehmen, deren Alltag nicht schon ohnehin darin besteht, diese Debatten mittels journalistischer, künstlerischer und intellektueller Beiträge zu bereichern?
Der Blick über die eigene Position hinweg fällt oft schwer, beginnt mit Unverständnis und endet mit Paternalismus. Gleichzeitig kreiert die Diskussion in vertrauter Umgebung ihre eigene Echokammer, deren Inhalte sich wiederholen und aufeinander beziehen. Die großen Aushängeschilder ² der krisenbedingten Begleiterscheinungen formulieren im Gleichklang die allseits bekannte Hymne von ermüdenden Videokonferenzen, fehlenden Kultureinrichtungen und verschmelzendem Home und Office.
Was aber passiert hinter den offensichtlichen Problemstellungen? Wessen Konflikte sind zu klein, zu intim oder zu irrelevant, um medial verbreitet zu werden? Welche Bedürfnisse ³ werden dieser Tage vernachlässigt und bleiben unbefriedigt? Ein Blick in zahlreiche Foren ⁴ eröffnet Perspektiven auf pandemisch geprägte „Life Failures“, deren Erzählungen vom Fehlschlagen aus den Tiefen des Internets geholt und digital materialisiert werden. Es entsteht ein Stadtbild des Scheiterns, ein Berg, dessen Gipfel nicht das Ziel, sondern unerfüllte wie unerreichbare Bedürfnisse darstellt.
IN ONE’S RIGHT MIND
BEI KLAREM VERSTAND
Utopische Szenarien
Eine Antwort auf die beliebte Frage nach Utopien, die eine komplett erneuerte Post-Corona-Gesellschaft beschreiben zu vermögen, sollte die Antwort nicht unbeachtet lassen, wessen Utopie damit gemeint ist. Entwürfe utopischer Lebenswelten werden oft von jenen erwartet, die sich akademisch mit neuen Technologien und Wissenschaften auseinandersetzen, künstlerisch tätig oder für ihr intellektuelles Denken bekannt sind. Wessen Alltag dabei ausgelassen wird und welche sozialen Ungleichheiten somit (re-)produziert oder gar intensiviert werden, wird in dominanten Utopie-Konzepten oft unter den Tisch fallen gelassen. Obgleich Utopien nie real werden und keine Vollständigkeit für sich beanspruchen, entsprechen sie doch ihrer historischen und gesellschaftlichen Umgebung. Utopische Gedanken werden nicht in einem Vakuum formuliert, sondern reagieren auf reale Zustände – daher gilt es zu berücksichtigen, was bereits gedacht oder realisiert wurde, was davon funktionierte und was nicht, um exkludierende oder elitäre Szenarien zu vermeiden.
Aushängeschilder
Während viele Kulturschaffende die oben genannten Probleme ohne Schwierigkeiten zu präsentieren wissen und teilweise sogar eigens entwickelte Online-Ausstellungen oder dezidiert die Krise betreffende Kunst produzieren, bleiben viele andere Anliegen aus verschiedenen Gründen ungehört: Das fehlende kulturelle Kapital, die eigene Unbekanntheit oder Situationen, deren Ernst sich schlecht in polemische Kolumnen oder hippe Online-Kunstwerke übersetzen lässt sind nur einige davon. Um den Schein der angeblich pluralen und vielschichtigen Kulturdebatte in Zeiten der Krise offenzulegen, platziere ich das Ungehörte auf die Fassaden und Leuchtreklame, ersetze sorgsam formulierte und elegant klingende Schlagzeilen mit verzweifelten Problemstellungen aus Online-Foren und sehe der kulturellen Verwertbarkeit der Krise bei ihrem Zerfall zu. Die virtuelle Landschaft bildet sich aus zahlreichen Fassaden, deren Außen damit bestückt ist, was vornehmlich allzu oft im Inneren verborgen bleibt.
Bedürfnisse
Die Unterschiedlichkeit menschlicher Bedürfnisse ist weitreichend. Aktuell ist das Verlangen nach Sicherheit und Stabilität ungemein größer als noch vor wenigen Monaten und Vorzüge, die bis vor Kurzem noch grundlegend und allgegenwärtig schienen, sind angesichts der derzeitigen Situation kaum vorstellbar. Die vermeintliche Universalität menschlicher Bedürfnisse hat auch der Psychologe Abraham Maslow zu ermitteln gewagt. In seiner vor allem in der Marketing- und Wirtschaftspsychologie beliebten Bedürfnishierarchie geht Maslow von fünf Bedürfnisebenen aus: Er unterscheidet zwischen Defizitbedürfnissen, deren Nichtbefriedigung physische oder psychische Erkrankungen zur Folge haben (etwa Atmung, Wasser und Schlaf) sowie unstillbaren Bedürfnissen, deren Erfüllung nie ganz erfolgen kann (Wertschätzung und Selbstverwirklichung). Neben fundierter Kritik an Maslows Theorie – wie etwa das Fehlen empirischer Evidenz seiner Forschung sowie die Zentrierung auf westliche und individualistisch geprägte Gesellschaftsstrukturen – ist vor allem auch aufschlussreich, dass es nie Maslows Intention war, die Bedürfnisse in einer Pyramide darzustellen. Diese war lediglich eine Folge der Interpretation seiner Arbeit, eignete sich jedoch vor allem zur fälschlichen Veranschaulichung der vermeintlichen Schritte zum Erfolg. Egal ob für Marketing, Konsumverhalten oder Arbeitsmotivation: Die Pyramide eignet sich nahezu immer dazu, grenzenloses Wachstum und kontinuierlichen Aufstieg anschaulich zu präsentieren.
Foren
Um ein Abbild von Begleiterscheinungen der Krise zu erlangen, das nicht meiner eigenen Situation entspringt, wurden Einträge unterschiedlicher Subreddits auf das Schlagwort „Corona“ hin durchsucht. Reddit ist eine Online-Plattform, deren von Nutzer_innen erstellte Unterforen ein breites Feld an Themen abdecken – Fragen von Erziehung, Sexualität und psychischer Gesundheit werden dort ebenso verhandelt wie Selbstverwirklichung und „unbeliebte Meinungen“. Aufgrund der digitalen Anonymität fällt der soziale Druck, weswegen Probleme direkt, unverblümt und oft erschreckend ehrlich ihren Weg in den virtuellen Raum finden. So entstand ein unvollständiges Archiv gesellschaftlicher und sozialer Nebenwirkungen der Krise, deren Effekte sich je nach Gruppenzugehörigkeit und Klasse intensivieren oder vermindern.
Referenzen
↘ Learning from Las Vegas (Denise Scott Brown, Robert Venturi, 1977) ↘ Aushängeschilder
↘ Big Sign, Little Building (Marta Kuzma, 2014) ↘ Aushängeschilder
↘ Prada Marfa (Elmgreen & Dragset, 2005) ↘ Aushängeschilder
↘ Untitled (A&P) (Daniel Pflumm, 2005) ↘ Aushängeschilder
↘ Red Corner (Romain Jacquet Lagreze, 2019) ↘ Aushängeschilder
↘ From Its Mouth Came a River of High-End Residential Appliances (Wang Shui, 2018) ↘ Aushängeschilder
↘ How Love Could Be (Tim Etchells, 2019) ↘ Utopische Szenarien
↘ East Wind (Cao Fei, 2011) ↘ Utopische Szenarien
↘ The Theory of Freedom (Bjørn Melhus, 2015) ↘ Bedürfnisse
In One’s Right Mind Lukas Graf
IN ONE’S RIGHT MIND
BEI KLAREM VERSTAND
Die Künste fungieren in Zeiten globaler Ohnmacht nicht als Mittel des bürgerlichen Zeitvertreibs ode als kulturelle Ablenkung, sondern werden entschieden in den Verlauf der Geschehnisse eingebunden. Von ihnen wird erwartet, die Lage politisch, emotional und kulturell zu verarbeiten, den Irrweg in die Krise zu analysieren sowie utopische Szenarien ¹ für die Zeit danach zu entwerfen.
Wer jedoch befindet sich in der zentralen Position, Autor_in der Zukunft zu sein? Wodurch erlangt man die Fähigkeit, Zusammenleben und Gesellschaft radikal neu zu denken und diese Vorschläge einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln? Und wie können auch jene daran teilnehmen, deren Alltag nicht schon ohnehin darin besteht, diese Debatten mittels journalistischer, künstlerischer und intellektueller Beiträge zu bereichern?
Der Blick über die eigene Position hinweg fällt oft schwer, beginnt mit Unverständnis und endet mit Paternalismus. Gleichzeitig kreiert die Diskussion in vertrauter Umgebung ihre eigene Echokammer, deren Inhalte sich wiederholen und aufeinander beziehen. Die großen Aushängeschilder ² der krisenbedingten Begleiterscheinungen formulieren im Gleichklang die allseits bekannte Hymne von ermüdenden Videokonferenzen, fehlenden Kultureinrichtungen und verschmelzendem Home und Office.
Was aber passiert hinter den offensichtlichen Problemstellungen? Wessen Konflikte sind zu klein, zu intim oder zu irrelevant, um medial verbreitet zu werden? Welche Bedürfnisse ³ werden dieser Tage vernachlässigt und bleiben unbefriedigt? Ein Blick in zahlreiche Foren ⁴ eröffnet Perspektiven auf pandemisch geprägte „Life Failures“, deren Erzählungen vom Fehlschlagen aus den Tiefen des Internets geholt und digital materialisiert werden. Es entsteht ein Stadtbild des Scheiterns, ein Berg, dessen Gipfel nicht das Ziel, sondern unerfüllte wie unerreichbare Bedürfnisse darstellt.
Utopische Szenarien
Eine Antwort auf die beliebte Frage nach Utopien, die eine komplett erneuerte Post-Corona-Gesellschaft beschreiben zu vermögen, sollte die Antwort nicht unbeachtet lassen, wessen Utopie damit gemeint ist. Entwürfe utopischer Lebenswelten werden oft von jenen erwartet, die sich akademisch mit neuen Technologien und Wissenschaften auseinandersetzen, künstlerisch tätig oder für ihr intellektuelles Denken bekannt sind. Wessen Alltag dabei ausgelassen wird und welche sozialen Ungleichheiten somit (re-)produziert oder gar intensiviert werden, wird in dominanten Utopie-Konzepten oft unter den Tisch fallen gelassen. Obgleich Utopien nie real werden und keine Vollständigkeit für sich beanspruchen, entsprechen sie doch ihrer historischen und gesellschaftlichen Umgebung. Utopische Gedanken werden nicht in einem Vakuum formuliert, sondern reagieren auf reale Zustände – daher gilt es zu berücksichtigen, was bereits gedacht oder realisiert wurde, was davon funktionierte und was nicht, um exkludierende oder elitäre Szenarien zu vermeiden.
Aushängeschilder
Während viele Kulturschaffende die oben genannten Probleme ohne Schwierigkeiten zu präsentieren wissen und teilweise sogar eigens entwickelte Online-Ausstellungen oder dezidiert die Krise betreffende Kunst produzieren, bleiben viele andere Anliegen aus verschiedenen Gründen ungehört: Das fehlende kulturelle Kapital, die eigene Unbekanntheit oder Situationen, deren Ernst sich schlecht in polemische Kolumnen oder hippe Online-Kunstwerke übersetzen lässt sind nur einige davon. Um den Schein der angeblich pluralen und vielschichtigen Kulturdebatte in Zeiten der Krise offenzulegen, platziere ich das Ungehörte auf die Fassaden und Leuchtreklame, ersetze sorgsam formulierte und elegant klingende Schlagzeilen mit verzweifelten Problemstellungen aus Online-Foren und sehe der kulturellen Verwertbarkeit der Krise bei ihrem Zerfall zu. Die virtuelle Landschaft bildet sich aus zahlreichen Fassaden, deren Außen damit bestückt ist, was vornehmlich allzu oft im Inneren verborgen bleibt.
Bedürfnisse
Die Unterschiedlichkeit menschlicher Bedürfnisse ist weitreichend. Aktuell ist das Verlangen nach Sicherheit und Stabilität ungemein größer als noch vor wenigen Monaten und Vorzüge, die bis vor Kurzem noch grundlegend und allgegenwärtig schienen, sind angesichts der derzeitigen Situation kaum vorstellbar. Die vermeintliche Universalität menschlicher Bedürfnisse hat auch der Psychologe Abraham Maslow zu ermitteln gewagt. In seiner vor allem in der Marketing- und Wirtschaftspsychologie beliebten Bedürfnishierarchie geht Maslow von fünf Bedürfnisebenen aus: Er unterscheidet zwischen Defizitbedürfnissen, deren Nichtbefriedigung physische oder psychische Erkrankungen zur Folge haben (etwa Atmung, Wasser und Schlaf) sowie unstillbaren Bedürfnissen, deren Erfüllung nie ganz erfolgen kann (Wertschätzung und Selbstverwirklichung). Neben fundierter Kritik an Maslows Theorie – wie etwa das Fehlen empirischer Evidenz seiner Forschung sowie die Zentrierung auf westliche und individualistisch geprägte Gesellschaftsstrukturen – ist vor allem auch aufschlussreich, dass es nie Maslows Intention war, die Bedürfnisse in einer Pyramide darzustellen. Diese war lediglich eine Folge der Interpretation seiner Arbeit, eignete sich jedoch vor allem zur fälschlichen Veranschaulichung der vermeintlichen Schritte zum Erfolg. Egal ob für Marketing, Konsumverhalten oder Arbeitsmotivation: Die Pyramide eignet sich nahezu immer dazu, grenzenloses Wachstum und kontinuierlichen Aufstieg anschaulich zu präsentieren.
Foren
Um ein Abbild von Begleiterscheinungen der Krise zu erlangen, das nicht meiner eigenen Situation entspringt, wurden Einträge unterschiedlicher Subreddits auf das Schlagwort „Corona“ hin durchsucht. Reddit ist eine Online-Plattform, deren von Nutzer_innen erstellte Unterforen ein breites Feld an Themen abdecken – Fragen von Erziehung, Sexualität und psychischer Gesundheit werden dort ebenso verhandelt wie Selbstverwirklichung und „unbeliebte Meinungen“. Aufgrund der digitalen Anonymität fällt der soziale Druck, weswegen Probleme direkt, unverblümt und oft erschreckend ehrlich ihren Weg in den virtuellen Raum finden. So entstand ein unvollständiges Archiv gesellschaftlicher und sozialer Nebenwirkungen der Krise, deren Effekte sich je nach Gruppenzugehörigkeit und Klasse intensivieren oder vermindern.
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Referenzen
↘ Learning from Las Vegas (Denise Scott Brown, Robert Venturi, 1977) ↘ Aushängeschilder
↘ Big Sign, Little Building (Marta Kuzma, 2014) ↘ Aushängeschilder
↘ Prada Marfa (Elmgreen & Dragset, 2005) ↘ Aushängeschilder
↘ Untitled (A&P) (Daniel Pflumm, 2005) ↘ Aushängeschilder
↘ Red Corner (Romain Jacquet Lagreze, 2019) ↘ Aushängeschilder
↘ From Its Mouth Came a River of High-End Residential Appliances (Wang Shui, 2018) ↘ Aushängeschilder
↘ How Love Could Be (Tim Etchells, 2019) ↘ Utopische Szenarien
↘ East Wind (Cao Fei, 2011) ↘ Utopische Szenarien
↘ The Theory of Freedom (Bjørn Melhus, 2015) ↘ Bedürfnisse
In One’s Right Mind Lukas Graf